Retrieving: Die alte Dame: Letzte Vorbereitungen
Ich befand mich in einem fremden Haus. Dann erkannte ich, dass es sich hierbei um die Wohnung von Frau K. handelte. Wir hatten einige Jahre miteinander geschäftlich zu tun und haben uns regelmäßig getroffen und zusammen gearbeitet.
Sie ist mittlerweile 88 Jahre alt und wir haben uns vor ca. einem Jahr mehr oder weniger voneinander verabschiedet. Dieser Zeitpunkt war gekommen als sie ein Pflegefall wurde. Ich hatte indirekt des Öfteren versucht, sie auch auf rationaler Ebene anzusprechen, damit sie ihre unaufhörliche Programmierung darauf, dass sie ganz bestimmt irgendwann zu einem Pflegefall würde, endlich unterbricht.
Doch sie war ein Mensch, der solche Dinge von Grund auf, ohne sie jemals überprüft zu haben, anzweifelte. Sie glaubte nicht an ihre eigene Kraft und an die Kraft der Gedanken und Gefühle. Vorurteile halt… wie so viele Menschen. Ich konnte sie nicht überzeugen. Jetzt ist sie seit einem Jahr ein Pflegefall und war auch Grund dafür gewesen, unsere Treffen einzustellen.
Nun befand ich mich also in ihrer Wohnung. Ihre Putzfrau war gerade dort und machte sauber. Auf dem Tisch stand ein Keyboard, was sich Frau K. vor einigen Jahren gekauft hatte, um Klavierspielen zu üben. An dem Keyboard klebte ein Zettel auf dem der Name einer Freundin stand. Sie schrieb, dass sie ihr das Keyboard schenken möchte, weil sie nicht mehr die Kraft habe, darauf zu spielen und nun ein Pflegefall ist und bald sterben werde.
Auf einem anderem Tisch, mit silbernen Beinen und echter, goldverzierter Kante, stand ihr Laptop. Auch an diesem klebte ein Zettel mit dem Namen einer anderen Freundin. Sie wollte ihr den Laptop aus den gleichen Gründen schenken. Es waren auch noch andere Gegenstände dort, die sie verschenken wollte. Lampen, Schränke, Fernseher…
Kurze Zeit später verabschiedete sich die Putzfrau von ihr. Ich stand neben Frau K. und schaute sie mir noch einmal an. Sie trug ein weißes Nachthemd mit blauen Blümchen. In meiner Wahrnehmung leuchtete ihr schlohweißes Haar ein wenig.
Sie konnte mich nicht sehen. Ich befand mich im außerkörperlichen Zustand und hatte sie einfach besucht, um zu sehen, wie es ihr geht. Es war deutlich. Sie traf ihre letzten Vorbereitungen, um sich bald von der Welt der Menschen zu verabschieden und in eine andere Welt zu gehen. Natürlich glaubt sie fest daran, dass nach dem Tode nichts mehr existieren kann für sie, aber ich werde schelmisch in mich hineingrinsen, wenn sie eines Besseren belehrt werden wird.
“Wissen Sie”, sagte sie zu mir immer. “Es gibt viel zu viel logische Gründe dafür, dass es kein Leben nach dem Tod geben kann. Erstens, wir haben momentan ungefähr sechs Milliarden Menschen auf unserem Planeten. In der gesamten Geschichte der Menschheit muss es also tausende Milliarden Menschen gegeben haben, die schon einmal gelebt haben. Wo sollen die alle hin? So viel Platz kann es doch gar nicht geben nach dem Tod!”
“Vielleicht ist ja da viel mehr Platz als hier! Sicher sein kann man sich da doch nicht”, entgegnete ich.
“So viel Platz soll es dort geben? Das glaube ich nicht. Alles Unsinn!”
“Das Universum ist ja auch riesengroß und unser Planet Erde ist nur ein winziger Staubkorn im All unter all den anderen Milliarden Planeten und Sonnen. Da gibt es ja auch genügend Platz.”
“Und… und was soll ich meinem Ehemann sagen? Als er gestorben ist, habe ich ein paar Jahre später einen neuen geheiratet. Dieser ist zwar jetzt auch schon tot, aber wie soll das gehen? Empfangen mich dann beide, wenn ich sterbe? Das gibt doch nur Probleme! Und all die Menschen, die man getötet, betrogen, verraten und verletzt hat. Was ist mit denen? Die stehen dann auch da und empfangen einen? Ich weiß nicht, ob ich das will oder sonst irgendwer auf dieser Welt. Nicht, dass ich irgendwem irgendwas Schlimmes angetan hätte! Ich war immer korrekt zu den Menschen und habe immer gern geholfen, aber ich kann mir nicht vorstellen, wie das alles laufen soll.”
“Eventuell sind ja ihre beiden Männer jetzt gute Freunde. Vielleicht gibt es ja auch dort andere Möglichkeiten und Gesetze als hier. Es gibt einfach keinen Beweis für den absoluten Tod und dass nach dem Tod nichts mehr kommt. Nur, weil man sich etwas nicht vorstellen kann, bedeutet das nicht, dass es dann nicht existieren kann.”
“Ja”, entgegnete sie, “das stimmt, es gibt keinen Beweis, aber es gibt auch keinen, dass es ein Leben nach dem Tod gibt.”
“Das ist richtig, aber wenn es keinen absoluten Beweis gibt, ist folglich alles, was wir über die Zeit nach dem Tod denken, sei es nur Schwärze und das Nichts oder ein Paradies, ein Himmel oder eben eine andere Welt mit neuen Gesetzen und Herausforderungen, ein Vorurteil.”
An diesem Punkt endete unsere Gespräch meistens. Ihre Argumente waren Vorurteile für mich und meine waren halt Vorurteile für sie. Eine Pattsituation. Doch innerlich grinste ich schon ein wenig.
“Wissen Sie”, fuhr sie fort, “wenn ich mir jetzt vorstelle, wie schnell mein Leben umgegangen ist. Das ist einfach unglaublich. So schnell ging es um. Ich hätte gern das eine oder andere rückgängig gemacht. Ich habe manchmal einen guten Freund verurteilt und ihn verloren. Und jetzt? Jetzt bin ich allein. Und wissen Sie, ich weiß, dass ich bald sterben werde. Es ist unklar, ob ich das nächste Weihnachten erleben werde, aber ich muss sagen, ich hab jetzt so richtig Muffensausen.”
Jetzt stand ich also unsichtbar neben ihr und schaute ihr zu, wie sie die letzten Vorbereitungen traf. Vermutlich fühlte sie sich bereits sehr schwach. Weihnachten war für sie immer ein gewisser Fixpunkt gewesen. Sie glaubte, dass sie in dieser Zeit sterben werde.
Vielleicht wird es dieses Weihnachten bereits so weit sein. Ich bin auf ihr überraschtes Gesicht gespannt…
Siehe auch die anderen Teile:
Die alte Dame: Sie ist gegangen
Die alte Dame: Letzte Vorbereitungen
3 Comments
Maureen
Hallo Jonathan,
handelt es sich bei der Dame, um die es auch in deinem Eintrag “Das Alter und die Weltenverschiebungen” geht?
>>Während sie mir wieder detailliert Geschichten aus ihrem Alltag erzählte und mitteilte, dass sie ja überhaupt keine Lust mehr besäße, ihr Leben fortzuführen und daran denkt, es einfach vorzeitig zu beenden. Doch, so sagte sie, könne man höchstens in die Schweiz fahren, um sich dort einschläfern zu lassen.<<
Wenn ja, freut es mich sehr, dass sie ihren Weg in diesem Leben so beendet.
Ich weiß, ein Tod durch Euthanasie soll in der Regel friedlich verlaufen, allerdings bringt er auch keine Vorteile. Man nimmt sich ein wenig die Möglichkeit zu lernen, was zu lernen ist. Verschiebt es sozusagen in ein anderes Leben.
Für mich habe ich beschlossen, so viel wie möglich “mitzunehmen” und mein Leben nicht vorzeitig durch jemanden, auch nicht durch mich, beenden zu lassen.
Das ist aber nur meine ganz persönliche Einstellung dazu, ich kann andere Sichtweisen teilweise sehr gut nachvollziehen.
Liebe Grüße
Maureen
Nicole
Sehr schöner Beitrag Jonathan … pünktlich zum Totensonntag :-)))! Und Du wirst Deine alte Freundin sicher hinüberbegleiten … schon aus dem Grund Ihr Gesicht zu sehen ;-)
Ein guter Freund, der vor kurzem ebenfalls hinübergegangen ist, sah ich recht missmutig an einem See sitzen, in der kleine Steine warf. Er ist nicht besonders darüber erfreut, nicht im “Nichts” angekommen zu sein.
LG
Nicole
Jonathan
Maureen:
Das hast Du völlig richtig erkannt. Das ist die gleiche Dame. :-)
Nicole:
Stimmt, jetzt wo Du es sagst, fällt mir auch ein, dass heute dieser Feiertag ist. Das ist dann wirklich sehr passend!
Richtig, manche wünschen sich wirklich, dass es nach dem Tod nicht weitergeht. Sie hoffen sogar, dass danach nichts mehr kommt.
Liebe Grüße, Jonathan