Retrieving

Retrieving: Rettungsmission Juliane

“Wenn Sie in der Lage sind, meiner Tochter zu helfen, dann wäre ich Ihnen mit Dank verbunden.”

“Seit wann ist sie denn in diesem Zustand?”, fragte ich.

“Seit einigen Wochen. Die Ärzte können sich das nicht erklären. Immer wieder wurde sie untersucht und niemand von ihnen konnte etwas bewirken. Es ist einfach nur schrecklich! Niemand kann es sich erklären…”, entgegnete Julianes Mutter und starrte nun abwesend auf den dunkelgrünen Teppichboden ihres Wohnzimmers. Nach einiger Zeit blickte sie mich wieder an und sprach weiter: “Wir haben dann von Ihnen gehört. Ich meine, dass sie andere Möglichkeiten nutzen, also welche, die niemand so kennt. Mein Mann und ich können uns nicht vorstellen, was sie für Möglichkeiten haben, aber wir wissen nicht weiter und Sie können sich denken, dass man dann nach jedem Strohhalm greift…”

Ich nickte: “Ich werde mein Bestes versuchen. Darf ich dann jetzt Ihre Tochter sehen?”

“Natürlich!”, meinte sie und sprang auf. Sie führte mich dann in einen anderen Teil des Einfamilien-Hauses und dort traf ich dann auf Juliane. Sie lag in ihrem Bett und ihr Blick war starr aus dem Fenster gerichtet. Ihre langen, schwarzen Haare lagen auf dem Kopfkissen verteilt. Sie blickte niemanden von uns an, als wir ihr Schlafzimmer betraten. Sicherlich war sie nicht älter als 18 Jahre.

“Sehen Sie, sie reagiert überhaupt nicht auf uns…” flüsterte die Mutter und ihre Augen füllten sich mit Tränen.

“Ja, ich sehe… Lassen Sie mich nun allein mit Ihrer Tochter. Und stören Sie mich unter keinen Umständen! Ich werde Sie rufen, wenn ich fertig bin”, sagte ich.

Kurz darauf verließ die Mutter das Zimmer und schloss hinter sich die Tür. Ich schloss die Tür ab, um ganz sicher zu sein, dass uns niemand stören würde. Dann setzte ich mich zu Juliane auf das Bett. Sie starrte weiterhin aus dem Fenster. Ich berührte ihre Wange. Ihre Körpertemperatur schien ein wenig höher zu sein als gewöhnlich. Dann drehte ich ihren Kopf so, dass sie mich anschauen konnte. Ihre Augen bewegten sich und sie fixierte daraufhin mein Gesicht. Offensichtlich konnte sie mich wahrnehmen, aber reagierte eben nicht großartig auf meine Anwesenheit; auch ihre Gesichtsmimik blieb unverändert. Ich hatte den Eindruck, als würde sie wissen, dass ich bei ihr war.

Daraufhin verdunkelte ich den Raum, zog meine Schuhe und mein Hemd aus und legte mich zu ihr ins Bett. Ich ergriff unter der Bettdecke ihre Hand. Sie fühlte sich warm und leicht verschwitzt an. Dann konzentrierte mich auf sie…

“Haha! Schau mal auf deine Füße! Wie sie aussehen! Haha!”, hörte ich jemanden rufen.

Mein Blick ging sofort herunter auf meine Füße. Die Zehen waren total angeschwollen und unglaublich dick. Es war mir ein bisschen peinlich. Die Zehen sahen wirklich monströs aus!

Ich befand mich in einem Wohnzimmer und saß auf einer Couch. Rechts von mir war ein Mann, der sich köstlich über meine Füße amüsierte. Links von mir, in einem ausgiebigen Sessel, saß ein weiterer Mann. In diesem Zimmer standen auch noch weitere Leute herum, die ich alle nicht kannte.

Was war denn eben geschehen? Wo war ich denn gerade noch gewesen? Wie kam ich hierher? Und welcher Mensch hat solche Zehen?

Plötzlich erkannte ich die Situation! Ich befand mich in einem Traum. Mehr noch, nun erinnerte ich mich an Juliane und an mein Vorhaben, in ihre Träume einzudringen. Es war mir tatsächlich gelungen! Ich war in Julianes Traum und somit in ihr Unterbewusstsein eingedrungen! Hier wollte ich Kontakt zu ihrer Persönlichkeit aufnehmen, weil in ihrer Alltagswelt kein Kontakt mehr möglich war. Menschen, die in der Lage sind, in die Träume anderer Menschen einzudringen, werden Traumwandler genannt (ich berichtete darüber in meinem Buch “Träume, Traumanalysen und alternative Realitäten”). Im Fall von Juliane hatte ich keinen Ausweg mehr gesehen und beschlossen, in ihre Träume einzudringen, um sie zu heilen. Nur so konnte ich einen vernünftigen Kontakt zu ihr aufbauen und mich über die Situation informieren, in der sie sich befand.

Dann blickte ich wieder auf meine Füße. Ich konzentrierte mich kurz und dann sahen sie wieder normal aus. Ganz zur Überraschung des Mannes neben mir, der sich den Bauch vor Lachen gehalten hatte. Er sprang erschrocken auf und schaute irritiert auf meine Füße: “Aber… aber wie hast du das denn gemacht?”

Mittlerweile schauten auch die anderen her und musterten mich kritisch. Ich dachte darüber nach, ob es vielleicht ein Fehler gewesen war, die Traumpersönlichkeiten in dieser Umgebung dermaßen zu irritieren. Ich musste an den Film “Inception” denken, in dem ausgebildete Träumer in die Träume anderer Menschen eingedrungen sind, um an wichtige Informationen zu kommen, die sie für gewöhnlich niemals von den Zielpersonen freiwillig erhalten hätten. In dem Film wurde von Sicherheitsmaßnahmen des Unterbewusstseins gesprochen, in dem sich die Traumpersonen gegen den Eindringling von außen wehrten. Ich überlegte, inwiefern dies wohl in meinem Fall nun zutreffen könnte. Befand ich mich nun überhaupt in Julianes Unterbewusstsein oder war es mein Traum? Ich war luzide geworden und konnte den Traum beeinflussen, aber wessen Traum träumte ich und in welchem befand ich mich gerade?

Es entstand eine gewisse Unruhe. Nun standen die ganzen Leute um mich herum und sie schauten mich misstrauisch an. Sie hielten mich nun für einen Exoten, der einen Trick angewendet hatte oder für jemanden, der sie täuschen wollte. Eine Welle des Misstrauens erreichte mich und sie kamen immer näher. Ich beschloss die Szene zu wechseln und teleportierte mich einfach aus dieser Szene heraus.

Wenige Sekunden später stand ich mitten in einem Kaufhaus. Das war eigentlich nicht der Ort, zu dem ich gewollt hätte. Irgendwie hatte ich das Gefühl, ich müsste Julianes Zimmer aufsuchen, denn dort dürfte ich sie in einem normalen, ansprechbaren Zustand vorfinden. Leider wurde mein Vorhaben von einer erneuten Misstrauenswelle unterbrochen. Die Besucher des Kaufhauses um mich her schienen mich nun ebenso kritisch zu beäugen, wie die Männer von dieser kleinen Party von vorhin. Sie kamen mittlerweile schon auf mich zugelaufen und wollten mich anfassen. Ich hatte gerade nicht mehr die Kraft, mich ein weiteres Mal zu teleportieren, also entschloss ich mich, zu kämpfen. Ich streckte meine rechte Hand aus und sandte dem ersten eine Welle Energie zu, die ihn sofort einfrieren ließ. Er verharrte auf der Stelle und konnte sich nicht mehr bewegen.

“Los, schnappt ihn!”, rief jemand und mittlerweile hatten sich mehr als zwanzig Personen angesammelt, die zu mir dringen wollten.

Immer wieder verschickte ich energetische Schübe und ließ einen nach dem anderen einfrieren. Sie blieben daraufhin unbeweglich auf der Stelle stehen. Ich kam mir vor, wie eine Gorgone, nur dass es nicht mein Blick war, der sie versteinerte, sondern meine Energiestrahlen.

Auf diese Weise konnte ich der aufgebrachten Menge Einhalt gebieten, aber ich hatte mich zu früh gefreut. Langsam schienen sich die eingefrorenen Leute wieder aus ihrer Starre befreien zu können. Zuerst bewegte sich ihre Mimik, dann bewegte sie die Finger und die Arme… Es war also langsam Zeit, von hier zu verschwinden. Ich rannte los und sprang durch ein nahe gelegenes Fenster. Ich fiel in die Tiefe, aber bevor ich auf den Boden schlug, versuchte ich, mich in Julianes Zimmer zu teleportierten.

Mein Switch reichte jedoch nicht aus, um in ihr Zimmer zu gelangen, aber ich stand plötzlich im Wohnzimmer der Familie. Julianes Eltern waren nicht in der Nähe, wie es mir schien, aber weitere Personen, die dort herumliefen und das Haus zu schützen versuchten. Als sie mich erblickten, wollten sie mich wieder berühren und aus dem Traum verbannen. Sie kamen mit ausgestreckten Armen auf mich zu. Wieder fror ich sie ein und sie konnten sich keinen Millimeter mehr bewegen. Dann stieß ich mit meiner flachen Hand gegen sie, um sie aufzulösen. Völlig lautlos lösten sie sich durch meinen Handschlag auf und verschwanden.

Dann lief ich in Richtung Julianes Zimmer. Auch dort begegnete ich noch einigen Personen, die mich versuchten anzugreifen. Manche von ihnen wirkten wie dunkle Schatten, überhaupt nicht mehr menschlich. Beinahe so, als seien sie noch nicht in der Entwicklung ihres Erscheinungsbildes als Traumpersönlichkeit abgeschlossen oder als seien sie Dämonen, die etwas zu schützen versuchten, was ihnen nicht gehörte. Doch auch diese konnte ich einfrieren und auflösen. Das Haus war nun gesäubert und ich betrat Julianes Zimmer.

Sonnenlicht drang durch das Fenster und erhellte das Zimmer. Es war ein schöner Anblick, wie sie dort friedlich auf ihrem Bett saß und in einer Zeitschrift blätterte. Als ich in ihrem Zimmer erschien, schaute sie auf.

“Ach, du bist es!”, meinte sie und sprang auf und begrüßte mich. Wir umarmten uns.

“Du weißt, warum ich hier bin?”, fragte ich.

“Aber ja, ich habe so gehofft, dass du einen Weg findest, um mir zu helfen und nun hast du es tatsächlich geschafft. Du hast mich befreit..”

“Richtig, ich bin hier. Und nun erkläre mir, was geschehen ist… Warum bist du so lethargisch in deiner Realität gewesen? Was ist passiert?”

Kurz darauf erwachte ich aus meinem Traum. Dies war wirklich ein sehr spannendes Erlebnis gewesen und ich hoffe, dass es Juliane nun gut geht.

2010-11-14

2 Kommentare

  1. Ich kann nur staunen!
    Mir verschwimmen gerade die Realitäten vor dem Bewusstsein. Was ist real? Alles irgendwie -oder?

    Ganz tolle Fähigkeiten hast du da, Jonathan!
    Momo

  2. Ich bin beeindruckt! Sehr rund und voller Kunst.
    Lg Nobi

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