Traumnacht: Im Waisenhaus
“Kannst du mal kommen?”, fragten mich die Drillinge.
Ich nannte sie so, weil die drei Mädchen blond, um die zehn Jahre alt waren und gern in ähnlichen Sommerkleidern herumliefen. Sie kicherten immer beherzt, sobald ich sie so nannte und es gab immer wieder Momente, in denen sich unsere Wege in dem Waisenhaus kreuzten. Hier war ich als Betreuer eingestellt und kümmerte mich um die Sorgen und Bedürfnisse der elternlosen Kinder.
Letzte Woche waren die drei ausgebüchst und hatten sich im Wald verlaufen. Nicht, dass sie hätten fliehen wollen, viel eher hatte sie die Abenteuerlust gepackt und sie in den nahe gelegenen Wald gelockt. Bevor eine polizeiliche Suche gestartet worden war, hatte ich mich auf den Weg gemacht und sie auf eigene Faust gesucht… und gefunden. Sie waren überglücklich, dass ich sie nach Einbruch der Dunkelheit “gerettet” hatte und sie waren mir dafür sehr dankbar. Ihre Angst vor dem Wald, die sie aus diesem Grund aufbauten, nahm ich ihnen, indem ich den Dreien die Schönheit der Natur wieder ins Gedächtnis rief. Unsere Beziehung zueinander war von diesem Moment an viel stärker geworden und sie waren immer in meiner Nähe, wenn ich im Waisenhaus meine Arbeit tat.
Als ich einmal Wochenenddienst hatte und ziemlich allein mit den Kindern war, überraschten mich die drei auf eine sonderbare Art und Weise. Ich trat in den Flur des Hauses und sie standen plötzlich am anderen Ende des Ganges. Als ich sie begrüßte, verschwanden sie in einem der anderen Räume. Ich folgte ihnen.
Langsam betrat ich den Raum. Nur eine kleine Lichtquelle von einer Nachttischlampe war eingeschaltet. Und mitten im Zimmer standen die drei Mädchen und hielten sich an den Händen. Ich schloss die Tür hinter mir und drehte mich dann um. Sie schienen mir wie verwandelt und kamen dann langsam auf mich zu. Schritt für Schritt. Von ihnen ging nun eine seltsame Aura aus und ich konnte mich plötzlich nicht mehr bewegen. Wie erstarrt und bewegungsunfähig schaute ich zu, was im Weiteren geschah… Langsam fiel ich nach hinten, wie in Zeitlupe, sanft und ohne Schmerz kam ich zum Liegen. Nun standen sie über mir und schauten zu mir herunter. Mein Körper vibrierte und ihre Ausstrahlung war magisch und intensiv. Sie lächelten mir zu und dann verstand ich, was sie mir zeigen wollten… ich träumte. Mein ganzes Leben, mein Beruf und mein Alltag waren alles Teil eines sehr langen Traumes…
2 Comments
Sarah
ein sehr schöner traum… ein vierjähriges kind hat mir vor einigen tagen plötzlich gesagt: “du bist tot”. das fand ich sehr interessant, und fragte: “wieso?” und das kind sagte: “ich bin ganz in meinem körper, du nicht.” das fand ich noch spannender, und denke öfters darüber nach. als ich noch mehr wissen wollte, sagte das kind: “mehr sage ich nicht”.
ich kann mir vorstellen, das ein kind noch die fähigkeit besitzt, tatsächlich das – “Selbst in selbst” zu haben. aber da das eigentliche – höhere – Selbst eine ganz andere sprache spricht -etwa in bildern denkt und vielleicht in tönen fühlt – ist es für ihm schwer für uns zu “übersetzten”, wo er sich gerade befindet. wir erwachsenen sprechen diese sprache nicht mehr, wir haben sie vergessen – und so können wir auch nicht mit den kleinen wirklich kommunizieren und sie verstehen. zumindest haben wir die märchen und die lieder, die die kinder so lieben, und viele geschichten mit schönen bildern, die uns helfen können, eine brücke zu bauen. aber die sprache der kinder kann man lernen, auch von den kindern “Selbst”. ich denke sie leben wie in einem grossen traum, der mehr real ist als unsere welt. wenn wir dann wachsen, vergessen wir unsere “traumheimat”, aus der wir einst kamen.
…am anfang war das wort – und das wort war vielleicht ein ewiger traum…
Jonathan
Hallo Sarah,
das ist aber auch eine sehr interessante Begebenheit von der Du berichtest. Kinder sehen viel mehr als wir glauben, das stimmt. Auch verraten sie in fast allen Fällen nichts von dem, was sie “sehen”. Manchmal kichern sie oder sie schauen misstrauisch.
Lg, Jonathan