Die andere Seite: Mein Sohn soll getötet werden
Mir meines Zustandes nicht sonderlich bewusst, befand ich mich gerade bei einem Bekannten, der ein eigenes Haus nahe den Gleisen besaß und mich aufgrund von Problemen mit seltsamen Andeutungen eingeladen hatte. Als ich mit dem Zug zu ihm gefahren war, begrüßte er mich aufgeregt am Bahnhof.
‘Die andere Seite’ ist eine bestimmte Ebene in den Träumen, in der nicht um Geld, sondern vielmehr um Bewusstheit gekämpft wird und zwar um jedes Quentchen. Eine Traumwelt der Dualität, des Kampfes, der Verluste und Siege, kurzum eine Trainingsebene auch zur Ausbildung latenter Fähigkeiten. Jeder Mensch besucht in seinen Träumen gelegentlich diese Trainingsebene.
“Ich habe die ganze Zeit auf dich gewartet. Wir können mit meinem Auto zu mir fahren. Ich wusste nicht, an wen ich mich wenden sollte! Mir fiel einfach nur dein Name ein und weil ich noch wusste, dass du dich mit so einem Zeug beschäftigst…”
Wir fuhren dann zu seinem Haus. Dort angekommen, stellte er mir seine Kinder, einen Sohn und eine Tochter im Alter zwischen 7-8 Jahren sowie seine Frau vor. Sie wirkten allesamt sehr verängstigt und gemeinsam berichteten sie mir von bedrohlichen Phänomenen, die in der Nähe ihres Hauses auftraten. Von dunklen Gestalten, schwarzen Schatten und sogar von einem Drachen, der nach Einbruch der Dunkelheit am Himmel entlang geflogen sei.
Verständlicherweise war ich auf den kommenden Abend in diesem Haus gespannt. Als dann endlich die Zeit gekommen war, ging ich nach draußen und schaute mich dort um. Er hatte Recht! Hinter dem Haus war ein Wald und ich erkannte deutlich einige herumlungernde Schatten. Sie wirkten, als wollten sie das Haus für sich beanspruchen.
Plötzlich vernahm ich einen starken Wind, der mit einem schwirrenden Geräusch einherging. Als ich dann nach oben blickte, erkannte ich einen Drachen, der am Himmel seine Bahnen zog. Ich konnte nicht mehr fortschauen, denn in dieser Erhabenheit und Grazie, mit der er über das Firmament zog, war ich sichtlich beeindruckt und erhoffte Momente einer näheren Begegnung. Diese ließ nicht lang auf sich warten und in einem Tiefflug raste er nur dreißig Meter über meinen Kopf hinweg, dass ich mit der Vorstellung ringen musste, in einen Graben zu springen, um einer möglichen Feuerbrunst zu entkommen.
Der Mann, der mich gerufen hatte, hielt schützend seine Arme um seine Familie. Mit entsetztem Blick schaute er mich an, gepaart mit einer gewissen Verzweiflung in seinen Augen. Doch meine Wenigkeit genoss diesen Moment, als der Drachen auf das Spielfeld gekommen war, denn seine Anwesenheit verlieh allem eine deutlich spürbare Mystik.
Doch beim nächsten Anflug des Drachen entfachten seine Schwingen einen kleinen Sturm und zur gleichen Zeit wurden wir von den Füßen gerissen. Die Überraschung hatte es in sich, denn im nächsten Moment waren wir nicht mehr dort, wo wir gerade noch gestanden hatten. Ich befand mich nun ungefähr 300 Meter vom Haus entfernt und neben mir stand sein Junge. Er blickte mich erschrocken an und hielt mir Hilfe suchend seine Hand entgegen. Irgendetwas war in seinem Blick, das ich nicht verstehen konnte. Das Leuchten in seinen Augen verschwand zunehmend und irgendwie verspürte ich dieselbe Bewusstseinsverschiebung in meinem Geist, wie sie augenscheinlich durch den Windzug des Drachen verursacht worden war.
Diese Verschiebung erzeugte in mir die Erinnerung, dass ich es hier mit meinem Sohn zu tun hatte! Ich war felsenfest davon überzeugt, er sei mein Sohn. Nun nahm ich gleichzeitig wahr, dass auf seinen Schultern ein vampirähnliches Wesen saß. Es war rein optisch betrachtet ungefähr im gleichen Alter wie mein Sohn, biss jedoch in seine Schulter und saugte an ihm.
Ich forderte das Wesen dazu auf, sofort von dem Jungen abzulassen. Als ich nach ihm schlug, ging meine Hand durch ihn hindurch. Es war mir nicht möglich, das Wesen zu berühren, geschweige denn, es von seinen Schultern zu reißen.
Einen winzigen Moment später verlor ich mein Bewusstsein bzw. erfuhr einen Wahrnehmungsbruch und saß überraschend in einem Zug. Nachdem ich mich ein wenig orientiert hatte, konnte ich erkennen, was geschehen war. Irgendeine unsichtbare Kraft hatte mich erneut von dem vorherigen Ort fortteleportiert. Zwar befand ich mich auf der selben Strecke, auf der ich zu dem Mann gefahren war, jedoch in die andere Richtung. Diese unsichtbare Kraft wollte mir unbedingt mitteilen, dass ich doch besser den Weg nach Hause antreten sollte und hatte mir dabei ein wenig auf die Sprünge geholfen.
Ich stieg gleich an der nächsten Station aus und erhielt in diesem Moment mehr Bewusstsein über meine Situation. Das war der Zeitpunkt, an dem der Traum präluzide wurde. Kurze Zeit später befand ich mich wieder neben dem Jungen stehend. Mit der Kraft meines Geistes und unter Nutzung meiner Traumkraft riss ich das Wesen von seinen Schultern und schleuderte es in den Wald.
Der Junge war mittlerweile auf die Knie gefallen und einer Ohnmacht nahe. Ich hob ihm vom Boden auf und trug ihn zurück zum Haus. Der Bekannte kam gleich auf mich zugestürmt und bedankte sich.
Ich stellte mich nach draußen und schaute in den Wald. Die dunklen Wesen zogen sich zurück. Ich hoffte, dass sie nie wieder zurückkommen würden.
In dem Moment erwachte ich. Es war eine traumreiche Nacht und ich konnte einige Träume erinnern.